Zwei Birnen und ein unerwartetes Gespräch über Gott

Der Alltag geht seinen Weg. Mitten hinein ein Anruf. Ein Hilferuf.

„Es geht ihm sehr schlecht. Ich habe schreckliche Angst. Er kann nicht mehr auf seinen Beinen stehen.“

Seit Wochen ist mir bewußt, daß diese Nachricht kommen wird. Und seit Wochen fürchte ich mich davor. Mein Bruder kämpft gegen den Krebs. Und er wird verlieren. Es zeichnet sich ab. Unübersehbar. Der Krebs wird als Sieger hervorgehen. Wie bereits bei meinem anderen Bruder. Vor acht Jahren, sechs Monaten und zwölf Tagen.

„Dieses scheußliche Biest!“

So nennt unsere Tochter den Krebs und sie hat eine brennende Wut auf ihn. Wie ich. Heute hat sie im großen Dom eine Kerze für meinen Bruder angezündet und gebetet:

„…daß er keine Angst hat und daß ihm die Zusage bewußt wird, daß er heimgeht. Dorthin, wo ihn etwas Schönes erwartet.“

Ich hörte ihr Weinen, begleitet von der Durchsage in der U-Bahn-Station. 

 

Ich fahre zum Haus meines Bruders. Läute und warte. Keine Fahrt mit dem Aufzug. Das ginge zu schnell. Stufe um Stufe mit klopfendem Herzen und unmerklichem Zittern unter der Haut. Die Tür steht bereits offen, als ich im dritten Stock ankomme. Meine Schwägerin erwartet mich. Wortlos blicken wir einander in die Augen und umarmen uns. Lange. Es sind bloß vier Schritte bis zum Wohnzimmer und ich wünsche, es wären vierhundert. Furcht ist ein schlechter Kraftspender. Sie legt sich in jede Pore der Haut, in jede Windung des Gehirns, drückt auf die Seele und umklammert den Atem.

Mein Bruder sitzt auf der Couch und erwartet mich. Man merkt ihm an, daß es ihn anstrengt. Sitzen, Stehen, Gehen, Sprechen. Alles ein Leben lang Selbstverständliche wird immer weniger möglich. Steigert sich zur Qual. Von Tag zu Tag. Von Stunde zu Stunde. Von Augenblick zu Augenblick.

Die wenigen Worte, die wir tauschen, sind geflüstert. In den folgenden Wochen werden auch sie versickern. In den unüberwindlichen Schluchten der Krankheit.

Doch an diesem Besuchstag flackert noch Hoffnung. Er kann noch etwas zu sich nehmen. Leichtes, sommerlich Anmutendes. Das tägliche, gemeinsame Ritual des Mittags mit Tochter und Enkel möchte ich nicht stören und mit einem Vorwand mache ich mich auf in die Stadt. Kurz vor der Rückkehr gehe ich noch in den Obst- und Gemüseladen, der erst kürzlich übersiedelt ist und direkt auf dem Rückweg liegt. Bis heute habe ich nicht herausgefunden, ob die Betreiber türkischer oder bosnisch-kroatischer Herkunft sind. Es ist nicht von Bedeutung. Die junge Frau ist sehr freundlich.

Womit könnte ich bei meinem Bruder etwas Appetit entfachen? Es sollte einladend aussehen und gut duften. Ich entdecke eine Kiste mit Birnen. Mit ihren gelblich-orangen Wangen auf dem gesprenkelten Frühlingsgrün ziehen sie mich magisch an. Ich denke an Sonnenstrahlen und Lächeln. Ungewohnt lang stehe ich vor der Holzkiste. Die schönsten sollen es sein. Da es sonst nicht meine Art ist, bei Frischobst übertrieben wählerisch zu sein und erst recht nicht, in Obst herumzuwühlen, sage ich mit entschuldigendem Ton:

„Ich möchte zwei besonders schöne mitnehmen. Sie sind für meinen Bruder. Er ist schwer krank und das Essen fällt ihm sehr schwer.“

„Was hat er denn für eine Krankheit?“ fragt die junge Frau. Nicht höflich, nicht neugierig. Es hört sich mitfühlend an.

„Krebs.“

Es ist, als ob dieses eine Wort die Tragik eines ganzen Lebens erzählte. Die gesamte

Krankengeschichte mit all ihrem Ausgeliefertsein.

„Darf ich fragen, welchen Krebs er hat?“ fragt sie vorsichtig.

Es stellt sich heraus, daß ihr Vater am gleichen Krebs leidet und kürzlich operiert wurde. Sie lobt die Ärzte im Krankenhaus von Wiener Neustadt. Plötzlich steht Gott im Raum. Es müsse schwer sein zu sterben für Menschen, die nicht an ihn glauben. Welche Perspektive eines friedlichen Abschiedes solche Menschen hätten, fragen wir uns.  Und wir sind uns einig, daß es nicht wichtig sei, wie dieser Gott heiße.

„Er ist der Gott aller Menschen, ganz gleich, welchen Namen wir ihm geben.“

„Ich glaube an Gott“, sagt die junge Obstverkäuferin und nickt bestätigend.

Während ich nach Münzen krame, nimmt sie ein Stanitzel aus festem, ockerfarbenem Packpapier und gibt zwei Handvoll glänzende, dunkelrote Kirschen hinein. Dann überreicht sie mir das Stanitzel und sagt:

„Für Ihren Bruder.“

Wir blicken uns an. Weitere Worte erübrigen sich.

 

Der Alltag schreitet voran. Ich funktioniere. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelt, zucke ich

zusammen.

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