Sonntag in der Siegendorfer Puszta

Muß man Flügel haben, um auf die Suche nach sich selbst zu gehen?

Man braucht sich nur in die Einsamkeit zu begeben.

 

Teresa von Avila (1515-1582), Teresa de Jesús, spanische Mystikerin,

reformierte den Karmeliterorden, katholische Heilige

„Heute esse ich nichts. Laßt es euch gut schmecken“ sagt sie eines Sonntags zu ihrer Familie.

Es ist Mittagszeit und es sind ihre letzten Worte bevor sie aufbricht. Keine große Reise, kein

besonderes Ziel. Bloß ein Gang in die Umgebung. Die kommenden achteinhalb Stunden wird sie allein verbringen. Schweigend. Im Einklang mit der Natur. Der Natur der benachbarten Hotter ihres Dorfes. Trotzdem alles andere als vertraut. Vielmehr eine Neuentdeckung.

Achteinhalb Stunden, ohne einen Schluck Wasser mitzunehmen, ohne Pause. Einfach gehen.

Gehen und schauen. Gehen und riechen. Gehen und hören. Gehen und schweigen. Fortbewegen in unbekanntes Land. Vielleicht sechs Kilometer von ihrem Dorf entfernt, trotzdem unbekannt. Nie besucht. Was für ein Versäumnis! Achteinhalb Stunden ohne einem einzigen Menschen zu

begegnen. Bloß die Sprache des Windes, Vogelgesang, seltene Blüten, entferntes Geräusch von Flugzeugmotoren und Ameisenstraßen quer über die asphaltierte Straße. 

Die Mittagssonne brennt hernieder. Pannonisch heiß. Der säuselnde Wind erbarmt sich und macht die glühenden Strahlen erträglich. Sie verläßt den Garten ihres Hauses und betritt den Feldweg - von ihren Vorfahren „Orbuški put“ genannt - nach dem kroatischen Namen für das ungefähr

fünfzehn Kilometer entfernte Rohrbach - Orbuh. Nach fünfhundert Metern steigt sie über das

Geleise der Gysev, der Raab-Ödenburg-Ebenfurter Eisenbahn, der einzigen Privatbahn, die die Staatsgrenze nach Ungarn überquert. Für diese Eisenbahnlinie mit einem beachtlich großen

Güterbahnhof im ungarischen Sopron/Ödenburg, wo sich auch der Sitz der Gesellschaft befindet, fahren mehr als vierzig Züge pro Tag. Vom Wintergarten ihres Hauses kann sie sie sehen. Früh am Morgen und spät am Abend.

Entlang der Geleise geht sie beschwingten Schrittes Richtung Draßburg, dem einst überwiegend kroatischen Rasporak, ungarisch Darufalva, an dessen Bahnhof täglich frühmorgens Pendler

warten, um rechtzeitig an ihren Arbeitsplatz in Wien zu gelangen. Es ist ein kleiner, gepflegter, dörflicher Bahnhof. Bevor sie die Ortschaft betrifft blickt sie zurück zu den mächtigen Weiden

entlang des Nodbaches, des Baches ihrer Kindheit, und atmet noch einmal den Duft von Raps, dessen kräftige Farbe die Ackerlandschaft durchschneidet wie ein gewaltiges, leuchtend gelbes Schwert. Wieder wird sein süßer Duft die Rehe anlocken, ohne ihrem Instinkt Gefahr zu

signalisieren. Die Gefahr, daß sie ihre natürliche Scheu verlieren und so wiederholt zum Opfer des Straßenverkehrs werden. Ihr Schwager, ein Jäger, hatte ihr erzählt, daß der Raps eine bestimmte zerebrale Störung bei Rehen verursache. Naschen schadet also nicht nur Menschen, denkt sie, und ist froh über die Tatsache, daß sie keinen einzigen Kornriegel eingesteckt hat.

Am Rande von Rasporak entdeckt sie einen für sie neuen Weg. Unasphaltiert, grasbewachsen und schön weich unter den Füßen. Er führt bald eine leichte Steigung hinan. Rechterhand weiß sie um den schlafenden Park von Schloß Draßburg, der nach Plänen von André Le Notre, dem

Gartenarchitekten von Versailles, teils in englischem, teils in französischem Stil gestaltet wurde. Zwölf Sandsteinfiguren von Jakob Christoph Schletterer zieren den Park, welche neun Musen

darstellen, sowie die Götter Apollo, Diana und Athene. Mehr als zweihundertfünfzig Jahre alt,

gehört dieser Park zu den bedeutendsten gartenarchitektonischen Denkmälern Österreichs. In

einem Ort mit etwas mehr als eintausendundeinhundert Einwohnern, wobei sicher nicht alle um die Bedeutsamkeit des Gartens am Rande ihres Dorfes wissen.

Zehn Hektar terrassenförmig angelegte Fläche im Ortsteil Untergut, darin das Schloß, einstiges Edelgut der Familie des Grafen Nádasdy, später im Besitz der Familie Zichy und schließlich

verkauft an den Siegendorfer Zuckerfabrikanten Konrad Patzenhofer. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges und damit einhergehender Plünderungen erfolgte die Renovierung und

Neueinrichtung des Hauses, um für zwanzig Jahre als Hotel zu dienen. In diesem Hotel hatte sie drei Jahre als Sekretärin gearbeitet, den Park kennengelernt und sich im Begehen des Irrgartens versucht. Nach dem Tod der letzten Besitzerin aus dem Hause Patzenhofer war das gesamte

Inventar zum Kauf angeboten worden. In jenen Tagen erinnerten manche Räume an

Plünderungen zur Besatzungszeit. An diesem sonnigen Spätfrühlingstag möchte sie nicht weiter daran denken. Nicht an die aus den Wänden von grober Hand herausgerissenen, geschmiedeten Vorhangstangen, die beschädigten Samtvorhänge und auch nicht an die privaten Briefe und

Fotografien, die, den Schubladen entnommen, nun auf dem kalten Boden lagen. Das ist vorbei. Endgültig. Die Erinnerungen bleiben an den jungen Blättern der Bäume haften. Dort sind sie gut aufgehoben.

 

Das ist eine Begleiterscheinung des Gehens - man nimmt Vieles mit, um es nach Möglichkeit

unterwegs zu verarbeiten und abzustreifen, oder mitzutragen bis zur Rückkehr. Unterwegs

sammeln Auge und Herz, was nicht zu übersehen ist. Altes, Verkrustetes wird leichter, Neues

beeindruckt und fordert heraus - zum Weiterlesen, Weiterfragen, Ergründen und Erweitern.

Durch einen länglichen, nicht eingezäunten Obstgarten geht sie über weiches Gras einen kleinen Hügel hinauf, übertritt wieder die Eisenbahnschienen und gelangt in eine Weingartenreihe an

einem Nordosthang, die sie direkt nach Baumgarten führt. Pajngrt, jener kroatische Ort, in dem vor rund neunzig Jahren die erste Tamburicagruppe des Burgenlandes gegründet wurde. Am oberen Ende des Weingartens bleibt sie kurz stehen und blickt ein zweites Mal zurück. Das fruchtbare Wulkatal in seiner breiten, ackergestreiften Schönheit liegt vor ihr, im linken Blickwinkel der Schneeberg, letzter Ausläufer der Alpen, und im rechten die Reste einiger Zagersdorfer Weinberge am Veliki vrh. Sie atmet tief durch und vermeint zu spüren, wie sich jeder einzelne Lungenflügel mit frischer Luft füllt. Hier zu stehen, zu schauen und zu atmen tut körperlich gut. Und seelisch. Sie

passiert das Haus von Ino Frank, dem bereits verstorbenen Bildhauer und Keramiker kroatischer

Herkunft, und seiner Frau Irmin, die ihre Textilkunst nicht nur im Ausland zeigte, sondern auch von Interessierten der Umgebung sehr geschätzt war.

Pajngrt ist zu dieser Tageszeit im Mittagsschlaf versunken. Keine Menschenseele auf dem kurzen Weg durch die Straßen. Vorbei an einer kleinen Kapelle außerhalb des Ortes biegt sie zum

Güterweg ab, der nach drei Biegungen in den Ciganski put (Zigeunerweg) mündet und dann in

einer Geraden in Klingenbach / Klimpuh / Kelénpatak in den sogenannten Ortsrand zavrti -

(Hintaus). Über die Lange Gasse, vorbei am Feuerwehrhaus und einigen alten Häusern, die zum Verkauf ausgeschrieben sind, passiert sie schließlich das „Gasthaus zur Grenze“, jahrzehntelange Adresse für Hochzeiten mit bis zu zweihundert Gästen - manchmal auch mehr. In der Nähe der Veranstaltungshalle am Ostrand von Klingenbach lädt eine Edelstahlsäule zum Trinken ein.

Erquickende Kühle auf halbem Weg. Wie bestellt.

 

Nach kurzer Zeit endlich angelangt. Jenseits der Brücke, die sich über die neue Straße nach

Sopron spannt, beginnt das eigentliche Ziel dieser Sonntagswanderung - die Siegendorfer Puszta, Obdach von Ziesel und Smaragdeidechse. Siegendorf, Cindrof, ungarisch Cinfalva, das hat für die meisten e i n e Bedeutung: Zuckerfabrik und damit einhergehender Wohlstand. Zuckersüßer

Reichtum. Für die Kroatischsprachigen ist Cindrof untrennbar mit britva verbunden, einem Scherznamen, der eben auf diesem Wohlstand und einer gewissen, damit verbundenen Eitelkeit beruht, weil viele der Ortsbewohner die angenehme Begleiterscheinung der Konjunktur gern nach außen trugen und als „Aufschneider“ gesehen wurden. Das galt jahrzehntelang. Wenig wissen die

meisten - Einheimische nicht ausgenommen - über eine andere Art von Reichtum. Jenen, der die Ortschaft umgibt, großzügig, vielfältig, artenreich.

Typisch, wie für viele Einheimische, weiß sie zu diesem Zeitpunkt wenig über das Natur- und Landschaftsschutzgebiet. Sie genießt einfach den Gang durch den Wald, zarte Blüten am

Wegrand, bekannte und weniger bekannte, freut sich über die ersten Farbtupfer einer Heidenelke, die bereits abgeblühten und kleine Fruchtkugeln bildenden Weingartenpfirsiche, und das fröhliche Zwitschern der Waldvögel. Ungezählte Schritte weit durch den bewaldeten, bis nach Klingenbach reichenden Teil der Puszta, danach an einigen fruchtbaren Feldern vorbei, allein auf der Welt,

zumindest in diesem beruhigend stillen, keineswegs lautlosen, Teil der Welt. Begleitet von

pannonischen Halbtrockenrasen, von denen sie nichts weiß, und Sulzbreiten im nördlichen Teil des Schutzgebietes, Salzsumpfwiesen und Pfeifengras, Fragmenten einer Wacholderheide, und tief unter ihren Füßen kalkreicher Sand und eine reiche Fossilführung. Fauna und Flora,

Bodenbeschaffenheit und biologische Erkenntnis, sowie die Erklärung zum Europaschutzgebiet - all dies wird sie sich im Laufe kommender Wanderjahre Schritt um Schritt ergehen und erlesen. Ungefragt wird das Knabenkraut blühen und der Aurorafalter dem Blütenduft folgen. Sie wird nach Zwerg-Schwertlilien suchen und nach dem Flaum-Steinröserl, mit dem eleganteren Zweitnamen Rosmarin-Seidelbast, nach Goldschopf und dem Frühlingsadonis.

Sie wird diesen Landstrich im Frühling erleben, wenn die Natur das Auge mit Blütenreichtum

beschenkt. Sie wird ihn im Juni durchwandern, wenn die Puszta ihr steppenbraunes Farbenkleid

anlegt. Der Herbst wird ihr am Rande der Puszta das unverwechselbar köstliche Aroma eines Weingartenpfirsichs bescheren und ein besonderes Licht, und der Winter, der Winter wartet noch auf Begegnung.

In einem seichten Graben neben dem Güterweg entdeckt sie einen Baumstumpf, dessen Rinde bereits von Käfern bearbeitet und abgetragen ist. Sie wird ihn am Tag darauf mit dem Auto abholen und in den Garten bringen. Zur Erinnerung an einen besonderen, stillen, sich sommerlich

zeigenden Spätfrühlingstag.

 

Am Abend dieses Sonntags, nach ihrer Rückkehr über Siegendorf und den abrundenden Bogen auf dem Wulkaprodersdorfer Hotter, vorbei an der Pieringer Mühle direkt an der Wulka, betritt sie

das Haus, übervoll der Eindrücke, Düfte, pannonischer Wärme, weicher Erinnerungen und der Freude unzähliger Schritte. Sie läßt sich in den alten, ehrwürdigen Sessel fallen und schlägt im hervorgeholten Buch nach. Puszta leitet sich vom altslawischen Wort „pust“ ab und bedeutet leer, öde, wüst, unbewohnt. Muttersprachliches Geschenk am Ende eines besonderen Tages.

Hvala, Cindrofska pusta. (Danke, Siegendorfer Puszta).


aus „Nicht wissen, woher man kommt - Reisen, entdecken, begegnen,

Lex Liszt 12, 2016

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