Ödenburg kontra Wien - oder Teta Micka versucht, sich zu arrangieren

Sie war nicht besonders groß. Etwas mehr als einhundertsechzig Zentimeter vielleicht. Das schien sie nicht zu stören. Was andere möglicherweise an ihrer Körpergröße vermißten, machte sie wett mit Leidenschaft, Entschlußkraft, Einsatzfreude, Lebens- und Überlebenswillen, sowie der schier unendlichen Kraft einer Oppositionellen. Ihr persönliches Schicksal hatte sie dazu gemacht.

Was für Friedrich Torberg die Tante Jolesch ist für mich meine Teta Micka, oder später dann in Wien gelandet, die Mitzi-Tant. Gott hab sie selig. An ihn geglaubt hat sie trotz aller aufreibenden, herausfordernden, oft schwer auszuhaltenden Umstände, ihr Leben lang. So wie Torbergs Tante Jolesch für den Untergang des Abendlandes steht, zeugt meine Teta Micka für Aufstieg und Verfall der kommunistischen Herrschaft in Ungarn. Zeit ihres Lebens war sie auf die Verfechter dieser politischen Richtung nicht gut zu sprechen, hatte man doch einen Kommunisten in ihr Haus gesetzt, das sie mit ihrem Mann erstanden oder errichtet hatte. Auf alle Fälle in schwierigen Zeiten unter noch schwierigeren Umständen. Zudem war sie zur Dienstmagd und Putzfrau eben dieses Hausbesetzers bestimmt worden. Degradierung pur.

„Ich hätt’ sollen das Haus putzen für diesen Kommunisten! Mei Haus, in dem er si braat g’mocht hot wiar a oide Schüldkrot! A francba! Fattyú!“

Diese aus ihrer Sicht ungeheure Frechheit zehrte an ihr und erfüllte sie mit Groll, solange sie lebte.

Teta Micka war die Schwester meines Vaters. Ihr Vater, also mein Großvater, war als junger Bursche aus Kohlbenhof gekommen, dem damals überwiegend kroatischen Dorf in Westungarn, den die Bewohner Koljnof nannten, und der heute Kópháza heißt. Dreisprachige Geschichte eines Ortes, die sich auch in jener von Großvater Feri und Teta Micka widerspiegelt. Der Vater von Teta Micka ist ungarischer Kroate, die Mutter deutschsprachige Frau aus Schwarzau am Steinfelde, dem damaligen „Esteraj“, wie unsere westungarischen Vorfahren Österreich nannten.

 

Geboren wird teta Micka als Kroatin in Zagersdorf, dem kleinen Dorf im heutigen Burgenland, neben dessen Waldrand die ungarische Grenze verläuft. Es ist also naheliegend, daß sie später einen Ungarn heiratet. Nun vielleicht nicht unbedingt aus geographischen Gründen. Sie liebt ihn einfach. Leidenschaftlich und hingebungsvoll, sodaß bald aus ihr eine begeisterte Ungarin wird. Die Söhne erhalten typisch ungarische Vornamen und erlernen nur die Sprache des Vaters. Sie findet ihre neue Heimat und ist glücklich. Die Familie lebt im besagten Haus in der Bécsi utca, der Wienerstraße der eingesessenen Ödenburger. Diese namentliche Verbundenheit mit Wien sollte Teta Mickas weiteres Leben bestimmen.

Neunzehnhundertsechsundfünfzig ändert sich alles. Abrupt und schmerzlich. Kompromißlos und hart. Das Jahr des Ungarischen Volksaufstandes, von den Ungarn selbst 56-os forradalom/Revolution, oder auch szabadságharc/Freiheitskampf, bezeichnet, das nicht nur für die im westungarischen und ostösterreichischen Raum lebenden Menschen zum historischen Begriff geworden ist, schneidet unerbittlich ins Leben tausender Menschen ein. Gleich einem scharfen Schwert. Manche Wunden werden niemals verheilen. Die Ereignisse von 1956 füllen nicht nur private Bibliotheken von Betroffenen. Ein einschneidendes Faktum und furchteinflößendes Detail in diesen Tagen ist, daß Kádárs Regime zweihundertfünfundzwanzig junge Burschen durch Erhängen tötet. Bei manchen erst sechzehnjährigen wird zugewartet, bis sie achtzehn Jahre zählen, um sie dann zu ermorden. Ganze Familien haben Deportation und menschenunwürdige Zustände hinter sich, und sehen sich aller menschlichen und demokratischen Rechte beraubt. Väter überreden Söhne, nach Österreich zu flüchten, damit wenigstens diese in Würde und Freiheit an ihrer Zukunft bauen können.

Mit vielen enttäuschten und erzürnten Freiheitssuchenden flüchtet Teta Micka durch den Zagersdorfer Urbarialwald nach Österreich. Inzwischen Witwe geworden, einen Sohn an die Tuberkulose verloren, sucht sie Befreiung vom brutalen Regime, der aufgezwungenen Rolle als Dienstmagd, den für sie nicht mehr lebbaren und auszuhaltenden Umständen, und dem Land, das nicht mehr das ihre ist. Unterwegs bleiben zurück ein Fahrrad, zwei Tuchenten und noch weiterer Ballast, der das notwendige Tempo behindert. Die Furcht vor dem Erwischtwerden ist zu groß. Ein zweites Mal verläßt Teta Micka ihre Heimat. Diesmal für immer. Nie wieder wird sie über die Schwelle ihres Hauses in der Bécsi utca steigen, nie wieder ungarischen Boden betreten. Nach kurzem Intermezzo in ihrem Geburtsort und Untermietererfahrungen in einem feuchten Haus, in dem nachts unter ihrem Bett zwei Kröten ungebetene Konzerte geben, wird schließlich Wien zur Bestimmung ihres weiteren Lebens. Den Abschiedsschmerz von Ödenburg noch in sich, die Trauer über Verlorenes in der Brust gleich einem schweren Stein, muß sie sich auf eine neue Stadt einlassen. Und auf eine neue Sprache. Und auf die Sorge um ihre beiden Söhne.

Aus Teta Micka wird Mitzi-Tant. Aus der Untergebenen des kommunistischen Hausbesetzers wird eine Tag und Nacht schuftende, aber freie Hausbesorgerin. Eine bedeutende Tatsache für die entschlossene Frau. Positiver Umstand in schwieriger Zeit. Trotzdem wäre es gelogen, zu sagen, die Mitzi-Tant hätte Wien geliebt. Gezwungenermaßen akzeptiert sie die Stadt. Arrangiert sich mit ihr, soweit möglich. Nimmt vieles in Kauf. Sieht über manches hinweg. Trotzdem hat Wien gegen ihr geliebtes Ödenburg wenig Chancen. Auch in späteren Jahren stellt sie Vergleiche an. Den strengen Maßstäben der kleinen Frau und ihrem Urteil ist nicht leicht standzuhalten. Und ihren Glaubensprinzipien.

„Do braucht kana an Herrgott. Am Sunntog gengans spazier’n und in Park. Mochn an weitn Bogn um die Kirchn. Gottloses Voik! “

Außerdem hatte sie in der Bécsi utca ein schönes Haus gehabt mit einem großen Garten, in dem sie nach Herzenslust anpflanzen konnte. Obst und Gemüse für den Haushalt und Blumen zur Freude. In Wien muß sie sich die ersten Jahre mit dunklen, feuchten Wohnungen begnügen.

„Es wird scho werd’n!“

Antriebskraft einer Optimistin für viele Jahre. So wäscht und kocht sie viele Tage und Nächte für fremde Menschen, um ihren Söhnen das Studium zu ermöglichen. Putzt Wohnungen, doch diesmal nicht dazu gezwungen. Sie wird dafür bezahlt, und das macht es erträglich. Sie schafft es, daß nach Jahren auch aus ihrem jüngsten Buben ein tüchtiges, „standiges Mannsbild“ wird. Nach einer Zeit der Entbehrung und einfachsten Lebens darf sie mit ihrem älteren Sohn in eine neue Wohnung im sechzehnten Wiener Gemeindebezirk ziehen. Diese duftet noch nach frischer Wandfarbe und dem Holz neuer Möbel und Teppiche. Anfangs ist sie nicht unbedingt froh darüber.

„Olles so neich. Neiches Haus, neiche Möbel, neiche Nochbarn. Ob i mi d’ron g’wöhnan werd?“

Die Öffnung der Grenze im Osten unseres Landes erlebt die Mitzi-Tant leider nicht mehr. Ich hätte es ihr gegönnt, noch einmal ihr Haus in Ödenburg sehen zu dürfen, das sie bis zum Tag ihres Todes als „ihr“ Haus bezeichnet. Vehement die Tatsache der Enteignung ignorierend.

Eines Tages erzählt sie bei einem ihrer raren Besuche:

„Vor a poar Tog hob i an Briaf kriagt. Aus Budapest. Wonn i a Verzichtserklärung untaschreib, donn derf i wieda noch Ungarn. A so a Frechheit. Zerscht nehman’s ma des Haus weg, und hiaz sull i aa no d’rauf vazichtn. Nia im Lebn. Niamois nit!“

Konsequenz bis zuletzt. Ein Prinzip, das ins Herz sticht, jedoch allen Stürmen des Lebens trotzt. Eines ist noch charakteristisch für Teta Micka. Nie hat sie Zeit. Auch ihre Besuche bei uns, zweimal im Jahr, zum Muttertag und zu Allerseelen – mit Blumen aus ihrem Schrebergarten für das Grab ihrer Eltern – sind begleitet von Zeitknappheit. Jedes Mal begrüßt sie uns mit den Worten:

„I muaß glei wieda foahrn.“

Um sich dann trotzdem müde hinzusetzen und ein ausgiebiges Plauscherl zu genießen.

 

Teta Micka ist im Laufe ihres Lebens in den Genuß dreier Muttersprachen gelangt. Eigentlich beste Voraussetzung für die Mitzi-Tant, Teta Micka oder Mariska-Néni, um ideale Wienerin zu werden. Großtstadt – Befähigungsausweis. Urbaner Glücksfall. Stadtbürgerschaftsnachweis ohne Brief und Siegel. Gänzlich unbeeindruckt von dieser Aussicht fällt es ihr manchmal schwer, diese drei Sprachen auseinanderzuhalten, beziehungsweise den entsprechenden Personen zuzuordnen. Es kann schon passieren, daß sie sich mit mir Ungarisch unterhalten möchte und gleichzeitig versucht, ihren Söhnen in kroatischer Sprache etwas zu erklären.

„Jessas, hob i scho wieda vertauscht!“, reagiert sie dann angesichts unserer hilflosen Blicke oder verständnisvollen Schmunzelns.

Diese zeitweiligen Identitätssprünge führen eines Tages zu einem Erlebnis mitten in Wien, das sie genußvoll schildert:

„Der Robert-Onkel is doch im Spitoi. I moch mi auf zan Besuch, dersteß mi, daß i no vorm End der Besuchszeit hinkumm. Eh ka Zeit, tausnd Sochn san no zan erledign. Oiso zah i mi o, in der an Hond den Korb mit’n Eing’mochtn aus meina Speis, in der ondan an wunderschenen, großn Strauß mit Bluman aus mein Schrebergoatn. Wonn’s das eilig host, schaust net auf Nebnsächlichkeitn, oda? Af amoi hear i hintan Ruckn an Pfiff. Furchtboar laut und schiach. Donn wieda. Und no amoi. I renn, schnauf und schwitz mi o. Wia konn i wiss’n, daß der Pfiff mia gült? Donn hear i den Schutzmonn ruafn:

‚Hoit Muatal, bleibn’s steh!‘

No a so a orma Teifl, der si olleweil dastessn muaß, so wia i, denk i ma. Und renn weida. Meini oidn, miadn Fiaß san oba net so schnö, wia di vom Schutzmonn. Plötzlich pockt er mi ban Kittl und i hob no a Glick, daß mi net auf die Nosn haut.

‚Wissen’s net, daß sei bei Rot iba die Kreizung san?‘

Ma merkt, daß er si ärgart. I gib eahm Ungarisch Ontwort. A Glick, daß er’s net vasteht. Wia i merk, daß i wieda die foische Sproch dawischt hob, sog i eahm no resolut:

‚I hob ka Zeit. Lossn’s mi in Ruah, sunst kumm i z’spät ins Spitoi.’

Umasunst. Wia wonn i zu an Staan g’redt hätt. Stöllts eich voar, der junge Tutta varlongt fufzig Schilling. Fia nix. Fia des Göd muaß i stundnlong woschn und bügln. Wia er auf a poar freindlichere Worte net reagiert, stöll i mein Korb auf d’ Erd und druck eahm mei Puschketl in die Hond:

‚Hoidn’s ma des kuarz. Oba passn’s auf, daß nix obbrechn. Dei san fiar’n Onkel Robert.’

Donn suach i in mein Gödbeasl noch an Fufzga. Der tuat no mea weh, ois die Steua ans Finanzomt. Schließli druck i eahm den Schein in die Hond und sog auf Krowodisch:

‚Do host, bei da Gurgl suins da aussiwochsn.’

Perplex gibt ea ma mei Puschketl z’ruck und sogt:

‚Des hot ma a no kane g’sogt!’

Boid war ma des Göld aus da Hond g’foin. Stöllts eich voa, muaß i grod an Krowodn aus’m Burgnlond dawischn! Trotzdem, den Fufzga vergiß i eahm nia nit.“

 

So enden Geschichten. Menschen gehen und hinterlassen Erinnerungen. Mit der Zeit verblassen Konturen, Gesichter werden durchscheinender. Doch Erlebtes krallt sich fest am gepolsterten Mantel der Zeit. So überleben manche Erinnerungen Generationen.


15. April 2021

Ana Schoretits



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